„Endlich ist es so weit“

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Erfolge und große Fortschritte in der Nachsorge

Die Kurzzeitnachsorge für kinderonkologische PatientInnen wurde österreichweit vereinheitlicht. Die Harmonisierung der Nachsorgestandards bedeutet nicht nur gleiche Versorgung für alle, sie ist auch Basis für die Weiterarbeit an der Langzeitnachsorge, der ebenfalls ein großer Erfolg beschieden ist: In Wien soll es ab 1. Jänner 2020 ein Nachsorgezentrum für erwachsene Survivors geben.

 

Es ist 7.30 Uhr morgens in einem hellen, freundlichen Zimmer auf der kinderonkologischen Station im AKH. Eine Krankenpflegerin, eine Sozialarbeiterin, eine klinische Psychologin und ein Arzt vertiefen sich in elektronische Befunde und Karteikarten der bis über 30-jährigen PatientInnen, die für die onkologische Nachsorgeuntersuchung angemeldet sind. Jede/r von ihnen hatte einen Tumor im Kopf, alle sind mit Spätfolgen belastet, die vom Tumor selbst und/ oder der Behandlung herrühren. Wo die Krankheit weniger als 10 Jahre zurückliegt, wie bei der 16-jährigen Michelle (Name geändert), liegt der Untersuchungsfokus auf der Früherkennung eines möglichen Rezidivs. Michelles Befunde sind „in Ordnung, da ist nichts“, beruhigt der Arzt. Deshalb wird sie gewisse Untersuchungen bald nur mehr alle 2 Jahre machen müssen. Die Sozialarbeiterin interessiert, wie es Michelle in der Schule geht. Denn manchmal kommt es vor, dass die LehrerInnen Konzentrations- schwächen oder Müdigkeitsanfälle nicht gleich richtig einordnen können. Mobbing durch MitschülerInnen ist auch immer wieder Thema. „In solchen Fällen versucht eine Sozialarbeiterin zu vermitteln – das Einverständnis der Betroffenen vorausgesetzt. Auch das gehört zur Nachsorge“, betont der untersuchende Arzt Dominik Reisinger.

 

Zweisäulenmodell

Die onkologische Nachsorge für HirntumorpatientInnen im AKH ruht auf zwei Säulen – dem Erkennen von Rezidiven (Wiederauftreten der Erkrankung) und jenem therapiebedingter Spätfolgen. Ersteres fällt unter die „Kurzzeitnachsorge“, wie sie von allen pädiatrisch-onkologischen Zentren Österreichs angeboten wird. Dabei werden die Kinder und Jugendlichen – unabhängig von ihrem Alter – bis zu 10 Jahre nach Therapieende betreut. Dies deshalb, weil die Auftrittswahrscheinlichkeit von Rezidiven in dieser Zeitspanne am höchsten ist. Im Allgemeinen werden dann die Kinderkrebsüberlebenden der Erwachsenenmedizin anvertraut. Je nachdem wie sorgfältig diese Überleitung vorbereitet wurde, fühlen sich die Betroffenen entweder gut aufgefangen oder gehen auf dem Weg dorthin „verloren“. Damit letzteres nicht passiert, werden die ehemaligen HirntumorpatientInnen vom Wiener AKH nahtlos weiter betreut. Schließlich sind viele unter ihnen von Spätfolgen so belastet, dass „regelmäßige Kontrollen lange Zeit erforderlich sind, eigentlich das ganze Leben lang“, so der Mediziner Dominik Reisinger. 10 Jahre oder länger: In beiden Nachsorgemodellen ist die Vereinheitlichung der Richtlinien ein zentrales Thema. Ein Thema, das bei der Kurzzeitnachsorge abgeschlossen ist: Seit dem Frühjahr gelten nämlich für alle kinderonkologischen PatientInnen Österreichs gleiche Nachsorgeschemata. Beim AGPHO (Arbeitsgruppe für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie) Treffen am 27. April im St. Anna Kinderspital waren sich alle in der „Nachsorgegruppe“ versammelten ExpertInnen einig, dass die Harmonisierung ein für das Gesundheitswesen großer Schritt ist. Dass sich der aus Innsbruck angereiste Kinderonkologe Roman Crazzolara dafür so engagiere, habe mit einer „Bringschuld“, die er als Arzt habe, zu tun: „Ich und meine Kollegen erachten es als Pflicht, uns um die Patienten auch nach der Therapie zu kümmern“. Eine Pflicht übrigens, die das öffentliche Gesundheitssystem leider vernachlässige: „Gerade für die Sekundärvorsorge, wo es darum geht, dass man keinen zweiten Krebs bekommt, gibt es viel zu wenig Geld“, bedauert der Onkologe.

 

Die „Nachsorgegruppe“ beim AGPHO-Treffen (v.l.n.r.): Herwig Lackner, Carina Schneider, Edit Bardi, Leo Kager, Roman Crazzolara (Andreas Peyrl war leider verhindert)

 

Deshalb habe die Nachsorge, die ja gleichzeitig eine Vorsorge sei, erst recht absolute Priorität für ihn. Auch Carina Schneider von der Interessensvertretung der „Survivors“ gibt sich über die aktuelle Entwicklung er- leichtert, weil mit der Harmonisierung „allen Survivors eine lückenlose und gleichwertige Nachsorge ermöglicht wird“. Dem ging eine lange Phase der Forschung, Dokumentation und Studientätigkeit voraus, die an der Grazer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde ihren Anfang nahm. Die hiesigen ÄrztInnen „haben sich schon vor 25 Jahren den Kopf über das weitere Schicksal der vielen erfolgreich behandelten Patienten zerbrochen“, erzählt der für onkologische Nachsorge zuständige Arzt Herwig Lackner. Die Steirer begannen aus den Untersuchungsdaten der PatientInnen Risikoprofile zu erstellen, auf deren Basis dann für jede Tumorerkrankung genaue Nachsorgerichtlinien entwickelt wurden. Die Grazer Nachsorgebögen und die Erfahrungen der Nachsorge- ExpertInnen der anderen Spitäler sind nun die Grundlage für die Vereinheitlichung der Kurzzeitnachsorge. Diese Harmonisierung bedeutet, dass Survivors nach eigens dafür ausgearbeiteten Nachsorgeschemata betreut werden können. Herwig Lackner ist zu Recht „ein bisschen stolz darauf, dass nun auch die Kinder außerhalb der Steiermark in den Genuss einer strukturierten Nachsorge kommen“. Leo Kager, Oberarzt am St. Anna Kinderspital, sieht in der Harmonisierung eine „Sicherheit“ für die PatientInnen: „Sie haben die Gewährleistung, dass sie da wie dort die gleich hohen Standards erwarten.“ Kager macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass der Harmonisierungsprozess nie „fertig“ sei, „da sich die Standards allein schon aufgrund der Arzneimittel, die neu auf den Markt kommen, ändern“. Via Telefonkonferenzen sollen sie daher laufend „neu angepasst“ und auf der Survivors-Website veröffentlicht werden (www.survivors.at).

 

Basis für Langzeitnachsorge

Carina Schneider freut sich über die gelungene Harmonisierung auch deshalb, weil „damit eine Basis für die Weiterarbeit an der Langzeitnachsorge geschaffen wurde“. Dank des medizinischen Fortschritts wächst zwar die Zahl der Langzeitüberlebenden, aber viele fühlen sich mit ihren Spät- folgen und dem Risiko eines Sekundärtumors alleine gelassen. In Europa und den USA arbeitet man bereits an Studien, um die Risiken einschätzen und zielgruppenspezifische Nachsorgepläne erstellen zu können. Es gibt aber auch schon Ergebnisse internationaler ExpertInnen- gruppen bezüglich standardisierter Untersuchungen (z.B. für Brustkrebs- vorsorge, Schilddrüsenkarzinomvor- sorge), an denen sich u.a. auch die Langzeitnachsorge-Einrichtungen in Österreich orientieren. So bietet das Kepler Universitätsklinikum in Linz seit Anfang April eine Langzeitnach- sorge an, die gemäß internationalen Richtlinien erwachsene Survivors berät und betreut. Verantwortlich dafür ist Edit Bardi, die mit einem effizienten Netzwerk spezialisierter ErwachsenenmedizinerInnen und PsychologInnen arbeitet, das es den Betroffenen ermöglicht, die Untersuchungen an einem Tag zu erledigen. Edit Bardi ist Mitglied von PanCare, einem europäischen ExpertInnen-Netzwerk, das sich u.a. mit der Erforschung und der Dokumentation von Spätfolgen beschäftigt und Nachsorge-Guidelines erarbeitet.

Die Linzer Nachsorgeambulanz ist bewusst nicht im Kinderbereich, sondern auf dem MedCampus (MC3) des Kepler Universitätsklinikums angesiedelt. Lange haben die Survivors auf dieses Angebot warten müssen, und nun ist es so weit.

In der Steiermark gibt es an der Grazer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde bereits seit 2014 eine sogenannte „Erwachsenensprechstunde“. Sie ist für über 18-jährige Survivors gedacht, die mindestens 7 Jahre in der Routine-Nachsorge gewesen sind. Wie ihre KollegInnen macht auch die zuständige Ärztin Sandrin Schmidt die Erfahrung, dass sich erwachsene Survivors immer wieder bei ÄrztInnen im niedergelassenen Bereich „verloren fühlen“. Da versucht die Onkologin dann als „Vermittlerin“ einzuspringen.

Als erstes Krankenhaus überhaupt hat das St. Anna Kinderspital bis vor kurzem eine Erwachsenen-Sprechstunde angeboten. Die bis zu ihrer Pensionierung von Eva Frey geleite Einrichtung verstand sich nicht nur als Informations-, sondern auch als Transitionsstelle für erwachsene Survivors. Auch wenn es im St. Anna zur Zeit keine Langzeitnachsorge gibt, könnte die „Lücke“ aber trotzdem bald geschlossen sein. Denn die ÖKKH arbeitet gemeinsam mit den Survivors Österreich und den Nachsorge-ExpertInnen aus Innsbruck, Wien, Graz und Linz am landesweiten Aufbau der Langzeitnachsorge. Das Projekt heißt „ZONE – Zentrum für onkologische Nachsorge Erwachsener“ und soll den unterschiedlichen medizinischen und psychosozialen Anliegen der Survivors gerecht werden. Dabei sind mehrere regionale Koordinationsstellen mit multidisziplinären Teams, bestehend aus einer/m MedizinerIn, einer/m klinischen PsychologIn und einer/m SozialarbeiterIn geplant.

 

Langzeitnachsorgezentrum in Wien

Eine solche regionale Koordinationsstelle soll nun in Wien entstehen. Die Wiener Gebietskrankenkasse und die Stadt Wien planen gerade mit den ZONE-InitiatorInnen ein Nachsorgezentrum, das am 1. Jänner 2020 in Betrieb gehen könnte. Es soll im Gesundheitszentrum auf der Wiener Mariahilfer Straße angesiedelt sein. Ein Team bestehend aus einer/m ÄrztIn, CasemanagerIn, PsychologIn und SozialarbeiterIn ist angedacht. Es ist das erste große multidisziplinäre ZONE- Projekt und es schließt eine breite Versorgungslücke. Für die Geschäftsführerin der ÖKKH, Anita Kienesberger, ist diese Entwicklung „nicht nur ein großer Gewinn für das Gesundheitswesen, sondern vor allem für die Survivors, die schon sehr lange auf so eine Einrichtung warten“. Außerdem, so Kienesberger, „ist Nachsorge die beste Vorsorge und kann hohe Kosten ersparen“.

 

Gut aufgehoben

Wie engmaschig multidisziplinäre Nachsorge sein kann, veranschaulicht u.a. das Schicksal von Kathleen Steiner aus dem Burgenland. Die 19-Jährige kommt seit 15 Jahren zum jährlichen Nachsorgegespräch in die eingangs beschriebene Hirntumor-Nachsorgeambulanz des Wiener AKH, wo sich Kathleen samt Mutter „mehr als gut aufgehoben“ fühlt. Nicole Steiner: „Wir kennen viele Ärzte und Schwestern und die wiederum kennen unsere Ängste und Sorgen.“ Ulrike Leiss, die leitende klinische Psychologin der Station, hat Kathleen schon durch viele Gefühlsschwankungen und Krisen begleitet. Und sie ist nach wie vor für die junge Burgenländerin da: Leiss nimmt im Wartebereich neben Mutter und Tochter Platz, nicht nur, um ihnen die Zeit zu verkürzen, sondern um entspannt über deren Befinden zu reden. Denn aus Erfahrung weiß die Psychologin, dass beim Nachsorgetermin oft nicht Zeit genug ist, um alles zu erfragen.

Es komme auch vor, „dass Patienten den Arzt nicht enttäuschen wollen und vorgeben, dass ‚eh alles in bester Ordnung‘ sei“. Kathleen geht es zur Zeit ganz gut, sie macht eine Ausbildung zur Floristin. Hauptthema der Nachsorgebesprechung sind ihre häufigen Infekte, eine späte Folge der Chemotherapie, die das Immunsy-tem geschwächt hat. Aus Sorge, die Krankenstände könnten die Ausbildung gefährden, ließ sich Kathleen zahlreiche Impfungen geben. „Doch das geht ins Geld, das weder meine Tochter noch wir als Eltern haben“, sagt Nicole Steiner. Man beschließt, eine Immunologin beizuziehen. Die ist in 10 Minuten da und schlägt eine Immunglobulisierungssubstitution vor. Dabei wird, vereinfacht gesagt, Kathleen per Infusion mit den fehlenden Antikörpern versorgt. Und was noch wichtig ist: die Behandlung übernimmt die Krankenkasse. Kathleen Steiner ist überglücklich und möchte unbedingt ihren „Lieblingsarzt“ Andreas Peyrl treffen, bevor sie zurück ins Burgenland fährt. Meistens leitet nämlich er die Nachsorgebesprechung, aber diesmal war er verhindert. Also geht sie ihn suchen und findet ihn auf „ihrer“ Station, wo sie vor 15 Jahren gepflegt wurde. Kathleen wünscht sich ein gemeinsames Foto mit ihm, „als Beweis, wie super hier die Nachsorge ist“, so Kathleen.

 

Susanne Riegler
(Dieser Artikel ist in der SONNE 2/19 erschienen)

 

(c) Susanne Riegler
Kathleen mit ihrem „Lieblingsarzt“ Andreas Peyrl